„Mein Körper reagiert einfach nicht auf sexuelle Reize! Ich will einfach, dass er wieder so funktioniert, wie vor der Chemo!“, sagt fast verzweifelt die junge Frau, die vor mir sitzt. Die junge Mutter musste sich aufgrund einer Brustkrebsbehandlung einer Chemotherapie unterziehen.

Gerade in jungen Jahren sind wir daran gewöhnt, dass unser Körper einfach nur reagiert. Wir machen uns eigentlich keine Gedanken darüber, was da passiert. Es passiert eben einfach. Gerade beim Sex spielen sich viele Dinge im Körper unbewusst ab.

Eine Chemo unterbricht diesen ganz natürlichen Ablauf sehr massiv. Schleimhäute reagieren nicht mehr wie gewohnt. Und das betrifft eben nicht nur Mund und Nase, sondern auch die Vagina. Die Penetration wird damit für Mann und für Frau sehr unangenehm, wenn nicht sogar sehr schmerzhaft.

Dann kann es sein, dass das Paar aus Angst erst gar nicht mehr den Versuch unternimmt. Sexualität verkommt in der Schublade: „Das war vor der Chemo anders und jetzt funktioniert das nicht mehr.“ Frust stellt sich ein.

Ich möchte alle Betroffenen dazu ermutigen, diese Gedanken zu verändern. Es kann nämlich auf ganz neue Art und Weise funktionieren, nämlich mit viel mehr Intensität! Voraussetzung dafür ist nicht nur die Bereitschaft, neu zu denken, sondern gemeinsam mit dem Partner Sexualität neu zu entdecken.

Was unsere Sexualität betrifft, erschaffen wir uns sehr schnell einen sicheren Rahmen, den wir nicht mehr so einfach verlassen. Das heißt, wir gewöhnen uns ein bestimmtes Muster an und diesem Muster bleiben wir treu, entweder, weil es uns zur Befriedigung führt oder weil es sich bewährt hat.

Die Möglichkeiten, die sich uns bieten, nehmen wir oftmals gar nicht mehr wahr. Gerade dann, wenn unsere körperlichen Empfindungen beeinträchtigt sind, lohnt es sich, ganz von vorne anzufangen. So wie ein Teenager. Berührungen oder Massagen am ganzen Körper können eine Landkarte entstehen lassen.

Wo ist meine Haut empfindsam?

Wo möchte ich keinesfalls berührt werden? Eine besonders wichtige Frage, wenn Narben vorhanden sind oder der ganze Busen fehlt.

Welche Berührung gefällt mir?

Wo spüre ich Erregung und wo nicht?

Gerade wir Frauen haben so viele erogene Zonen, die uns oft gar nicht bewusst sind. Lassen Sie sich von Ihrem Partner mit Bodypainting-Farbe anmalen. Markieren Sie alle Körperteile, die sie spüren können. Oder zeichnen Sie ein Plakat von sich und tragen Sie ein, wo eine Berührung schön ist. Wir können wieder lernen, empfindsamer zu werden. Es ist wie ein Gefühlstraining. Unsere Hände, später reicht auch mal eine Feder, um die Haut und damit die Sinne zu sensibilisieren. Spielen Sie mit Gegenständen, mit denen Sie sich berühren lassen.

Für die Vagina ist es heute nicht mehr nötig, mit Vaseline zu arbeiten. Es gibt Gleitgele auf Wasserbasis, Pflegecremes und natürliche Öle, die die Vagina und das Gewebe drum herum geschmeidiger machen. (Scheidentrockenheit betrifft übrigens auch viele Frauen in den Wechseljahren.)

Nutzen Sie Liebeskugeln oder Yoni-Eier. Diese regen die Schleimhäute an und fördern die Empfindsamkeit.

Wichtig für ein schmerzfreies Eindringen des Penis in die Vagina ist gute Kommunikation. Machen Sie ein Zeichen dafür aus, wenn alles gut ist und ein Zeichen für Stopp, sofort aufhören. Das können Worte sein oder Geräusche. So wie bei einer Ampel:

Grün: alles ist ok.

Gelb: langsam, vorsichtig, es wird unangenehm.

Rot: sofort Stopp!

Wichtig ist nur, dass Sie und Ihr Partner diese Zeichen verstehen.

Viel zu sehr sind wir darauf geschult, dass Sexualität immer bedeutet, dass der Penis in die Vagina eindringt. Voraussetzung für ein Eindringen ist allerdings, dass wir Frauen uns tatsächlich innerlich dafür öffnen können. Nach einer längeren Krankheit, also der intensiven Beschäftigung mit sich selbst, kann es sehr schwer sein, sich von heute auf morgen wieder für diesen Akt zu öffnen.

Wir haben viele Möglichkeiten und auch Hilfsmittel, dem Mann ohne Eindringen Befriedigung zu verschaffen. Hände spielen dabei eine große Rolle. Auch die Zunge kann sehr hilfreich sein. Manchmal reicht auch eine gemeinsame Dusche, um Neues über unseren Körper und den Körper des Partners zu erfahren.

Viel zu wenig ist uns bewusst, wie groß unser Spektrum an Möglichkeiten ist. Öffnen Sie sich für andere, neue Praktiken. Auch dem Partner bei der Selbstbefriedung zusehen, kann ein sehr intimes Erlebnis sein. Zudem lernen wir dabei, welche Berührungen unseren Partner schnell erregen und zum Orgasmus bringen.

Ein Orgasmus muss nicht immer der Abschluss einer intimen Begegnung sein. Manchmal ist es einfach schön, wenn wir Zweisamkeit bewusst genießen können. Manchmal ist es einfach nur schön, sich schweigend in die Augen zu blicken. Wenn die Krankheit kommt, darf die Liebe bleiben.

Machen Sie die Zweisamkeit zu einem festen Bestandteil Ihrer Partnerschaft. Erschaffen Sie sich Rituale, in denen Sie sich nahe kommen und der Ausgang offen ist (alles kann, nichts muss).

Befreien Sie sich von dem Druck, dass Ihr Körper funktionieren muss, sondern lernen Sie sich und Ihre Empfindungen neu kennen.

Und vor allem: Nehmen Sie sich Zeit und geben Sie sich die Zeit, die Sie brauchen! Gehen Sie Schritt für Schritt weiter. Sie haben die einmalige Chance, sich neu spüren zu lernen, nutzen Sie sie.

Ihre Mina Urban

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